Im Namen der Gerechtigkeit
Im Namen der Gerechtigkeit
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Buch 3 der Time Served Reihe.
Please note: This listing is for the German e-book edition.
MAIN TROPES
- Trauma
- Opposites Attract
- Criminal
- Touch Him and Die
- Revenge
- On the Run
SYNOPSIS
SYNOPSIS
JAVIER DE LA FUENTE ist ein Ex-Sträfling, der für seine Sünden büßt, indem er ehrenamtlich misshandelte Tiere rettet und Kinder beschützt, die während ihrer Aussagen bei der Polizei und vor Gericht das Gefühl brauchen, vor ihren Peinigern in Sicherheit zu sein. Doch wenn Javier eines im Leben weiß, dann, dass das Richtige zu tun nicht automatisch bedeutet, auf der richtigen Seite des Gesetzes zu stehen.
BOWIE BAKERS Leben ist perfekt. Oder zumindest so perfekt, wie es sein kann, wenn die eigenen Eltern einen verstoßen, weil man schwul und Balletttänzer ist. Doch abgesehen davon hat er es in einer großen Tanzcompany in L. A. zum Solisten geschafft und arbeitet hart daran, sich seinen Traum zu erfüllen, eines Tages als Principal Dancer auf der Bühne zu stehen. Als er auf Bitte der Direktorin der Company zustimmt, mit einem potenziellen Mäzen zu Abend zu essen, steht er plötzlich vor den Scherben seiner Existenz und muss feststellen, dass nicht jeder Täter seine gerechte Strafe bekommt.
Doch auch wenn sein Leben sich in einen Albtraum verwandelt hat und das Justizsystem in seinem Fall versagt, kämpft er sich ins Leben zurück. Aber sein Peiniger ist noch nicht fertig mit ihm. Als Bowie wütend in das zuständige Polizeirevier stürmt und Gerechtigkeit fordert, begegnet er dort Javier. Und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
LOOK INSIDE: CHAPTER ONE
LOOK INSIDE: CHAPTER ONE
Javier de la Fuente war daran gewöhnt, dass er auffiel und angestarrt wurde. Er war kein Hüne, aber kräftig gebaut, tätowiert und hatte haselnussbraune Augen, die ein wenig zu aufmerksam waren. Und er besaß ein großes Maß an Selbstvertrauen. Er hatte viel gesehen und war viel herumgekommen. Er war schwer zu schockieren und noch schwerer zu beeindrucken, und er brauchte nur einen Blick auf jemanden zu werfen, um ihn lesen zu können. Und die Menschen wussten das, was dazu führte, dass sie ihn instinktiv fürchteten und es vorzogen, die Straßenseite zu wechseln, wenn sie ihn kommen sahen. Was für ihn völlig in Ordnung war.
Außer an Tagen wie diesem. Tage, an denen er gezwungen war, vor einem Glasfenster in der Abteilung für Sexualverbrechen des LAPD zu stehen, zwei Schritte entfernt von einer kleinen Gruppe weltmüder Detectives, die seine Arbeit zwar schätzten, einem geläuterten Sünder jedoch nur so weit trauten, wie sie spucken konnten. Und da lag ihr erster Fehler. Er war kein geläuterter Sünder; er zog es nur vor, Buße zu tun, während er sündigte. Sollte es ein Leben nach dem Tod geben, würde ihn diese Taktik vielleicht ins Fegefeuer statt in die hinterste Ecke der Hölle bringen. Wie hieß es in der Bibel? Auge um Auge?
Direkt vor ihm, hinter der Glaswand, saß die achtjährige Annabelle Flannigan auf dem Boden und malte, während sie der Kinderpsychologin des LAPD erklärte, wie und wo ihr Fußballtrainer sie angefasst hatte. Javiers Rolle war einfach: dastehen und warten, sicherstellen, dass sie sehen konnte, dass er über sie wachte, damit sie wusste, dass der Mann, der ihr wehgetan hatte, ihr nie wieder etwas antun würde.
Und da war sie wieder, die Sache mit der Buße. Für ihn bestand Buße nicht darin, auf Annabelle aufzupassen, sondern dem Fußballtrainer nicht aufzulauern und ihm die Genitalien abzuschneiden. In seinem alten Leben drehte sich alles um Rache – schnell und nicht immer gerecht. Gerechtigkeit, besonders in den USA, wenn es um weiße Kriminelle mittleren Alters ging … das brauchte Zeit. Eine Kugel war schnell. Aber er hatte gerade seine vierte Haftstrafe abgesessen. Wenn er für einen Mord in den Knast ging, kam er nicht wieder raus. Es war das Risiko nicht wert.
Als ein Detective vorbeikam, schenkte Javier ihm ein freundliches Lächeln. Der Mann machte sich nicht einmal die Mühe, so zu tun, als würde er es erwidern. Er warf nur einen Blick auf die weite Jeans und das locker sitzende schwarze Hemd, das er trug, und fixierte einen langen Moment die Tätowierungen auf seinen Händen, ehe er den Blick abwandte. Die Gesetzesvertreter wurden nicht schlau aus ihm. Sie nahmen an, dass er zur mexikanischen Mafia gehörte, oder zumindest zu einer der vielen Gangs in L. A., die unter deren Schutz standen. Womit sie nicht ganz falschlagen. Im Gefängnis hatte er mit ihnen zusammengearbeitet, doch das war mehr eine geschäftliche Sache als eine Lebenseinstellung. Er hatte keine Lust, mit Drogen zu handeln und Geld zu waschen. Das war Lawsons Job.
Javier war nicht aus L. A. Er war nicht mal aus den USA, obwohl er in Texas geboren wurde und die ersten fünf Jahre seines Lebens jenseits der mexikanischen Grenze verbracht hatte. Als sie nach Sinaloa zogen und er mit dem Kartell in Kontakt kam, änderte sich einiges.
Seine prägenden Jahre verbrachte er als Laufbursche, bis er zu La Linea, einem der Vollstrecker des Kartells, wurde. Im Alter von dreizehn Jahren brach er die Schule ab und lernte fortan seine Lektionen auf der Straße. Er mordete zum ersten Mal, bevor er Auto fahren konnte, bekam seine erste Kugel ab, bevor er wählen durfte, und saß ein Jahr in einem Gefängnis in Sinaloa, bevor er achtzehn war. Damals hatte seine Mutter einen großen Gefallen eingefordert, um ihn dort rauszuholen.
Sie hatte seinen Tío, Angelo Fuentes, angerufen, einen Mann, von dem Javier bis heute nicht sicher war, ob er wirklich mit ihm verwandt war. Aber das war keine Prinz-von-Bel-Air-Situation. Angelo war ein Geschäftsmann mit einem Firmenlogo, das für das Kartell weitaus nützlicher war, als Javier es je gewesen war.
Javiers Mutter hatte geglaubt, Angelo würde ihn auf den rechten Weg führen, weit weg von jeglicher Kriminalität. Doch er hatte ihm nur einen Anzug, eine Gehaltserhöhung und den Anschein von Legitimität verschafft. Es stellte sich heraus, dass der internationale Waffenhandel seines Tíos in Wahrheit nur ein anderes Wort für Waffenschmuggel war. Und Waffenschmuggler, selbst solche, die Tausend-Dollar-Anzügen trugen, hatten Geschäftskonkurrenten und Javier war schon immer gut im … Verhandeln.
Annabelle hörte abrupt auf zu malen und drehte sich zu Javier um. Er nickte ihr zu und hielt die Daumen hoch. Sie nickte ebenfalls, und ihre schmalen Schultern sackten vor Erleichterung nach unten. Eine weitere Welle der Wut durchflutete ihn. Ja, eine Kugel wäre viel zu gnädig für den Mistkerl. Zumal die Opfer für immer mit den Nachwirkungen leben mussten, was ihre Peiniger ihnen angetan hatten.
Ein Tumult am Eingang des Büros erregte seine Aufmerksamkeit. Ein junger Mann in schwarzen Trainingshosen und ärmellosem rosa T-Shirt stürmte mit so viel Wucht durch die Glastüren der Abteilung, dass sie gegen die Wand prallten und eine Gruppe bewaffneter Polizisten aufschreckten. Wo Javier herkam, wäre das ein Todesurteil gewesen. Die Männer und Frauen in der Arrestzelle hingegen beäugten ihn nur misstrauisch.
„Wo ist Detective Hewitt?“, schnauzte der Typ und lief weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. „Hey, John. Wo sind Sie? Denken Sie, Sie können sich vor mir verstecken? Meine Anrufe ignorieren?“
Javier grinste über die schockierten Gesichter der Polizisten. Die meisten von ihnen waren zu verblüfft, um auch nur den Versuch zu unternehmen, den Jungen aufzuhalten, als er durch das Meer von Schreibtischen stürmte. Mit seinem platinblonden Haar und dem dunklen Ansatz sah er wie ein exotischer Vogel aus. Um mehr zu erkennen, war er zu weit weg.
Eine dunkelhaarige Frau in den Dreißigern trat aus einem Büro. „Mr. Baker, ich weiß, dass Sie verärgert sind, aber Sie können hier nicht einfach hereinplatzen und rumschreien.“ Sie legte ihm eine Hand auf den Arm.
Der Junge schüttelte ihre Hand ab, als wäre sie ein ekeliges Insekt und fauchte in giftigem Tonfall: „Tun Sie das nicht. Fassen Sie mich nicht an.“ Seine Augen scannten den Raum, auf der Suche nach seiner Zielperson. „Ich weiß, dass Sie hier sind, Sie Scheißkerl!“, rief er und ging tiefer in den Raum hinein, sodass Javier ihn genauer betrachten konnte.
Er schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Aufgrund der zahlreichen blauen Flecken, die sein Gesicht verunstalteten, war es schwer, das genauer festzulegen. Der Farbe nach zu urteilen, waren die Blutergüsse nicht besonders alt und gerade lange genug her, dass die wahrscheinlich starken Schwellungen abgeheilt waren. Auf seiner Stirn und der vollen Unterlippe sah man immer noch den Hauch eines Schnittes. In seinem linken Auge musste bei dem Angriff eine Ader geplatzt sein, wodurch das blasse Grün seiner Iris in dem immer noch rötlich verfärbten Weiß fast übernatürlich aussah.
Sogar wütend bewegte sich der Junge mit einer Anmut und Geschmeidigkeit, die Javier faszinierte. Er war groß und schlank und hatte fein definierte Muskeln. Er war eindeutig athletisch. Selbst sein Bizeps war mit heilenden Blutergüssen in Form von Handabdrücken übersät. Irgendjemand – oder mehrere Leute – hatten dem Jungen etwas angetan.
War es ein Hassverbrechen?
Normalerweise zog er keine voreiligen Schlüsse über die Sexualität einer Person, aber die Stimme und der Gang des Kerls hatten eindeutig einen femininen Touch und auf der Innenseite seines rechten Handgelenks war ein Herz in Regenbogenfarben tätowiert.
Javier hätte sich am liebsten mit der flachen Hand gegen die Stirn gehauen. Er war nicht bei der Abteilung für Gewaltverbrechen, sondern bei der Abteilung für Sexualdelikte. Der Junge war vergewaltigt worden, und das erst kürzlich. Verdammt.
Als er das Ende der Schreibtischreihe erreichte, sah er Javier mit einer Feindseligkeit an, die er unter anderen Umständen amüsant gefunden hätte. „Was gibt es da zu glotzen?“
„Nichts“, erwiderte Javier und machte mit der Hand eine Ich-überlasse-dir-den-Vortritt-Geste für den Fall, dass der Junge nach links abbiegen wollte, um tiefer in das Labyrinth der Abteilung zu gelangen, wo sich die Büros der ranghöheren Polizisten befanden.
Der Junge blieb wie angewurzelt stehen und starrte Javier mit einem Blick an, der ihn erschütterte. Hinter der Wut und der Empörung des Jungen verbargen sich Verzweiflung und Frustration. Er lag innerlich im Sterben. Die Erkenntnis traf Javier mit der Kraft eines physischen Schlags, der ihn einen Schritt nach hinten machen ließ. Die Bewegung schien den Bann zu brechen, dem der Junge verfallen war.
„Zeigen Sie sich, Sie verdammter Feigling“, rief der Junge den Gang entlang.
Ein Mann trat aus einem der begehrten Büros für leitende Beamte. Im Gegensatz zu den anderen Detectives in Kakihosen und Poloshirts trug dieser Mann eine Anzughose, ein fleckiges blaues Button-down-Hemd und eine Krawatte, die so zerknittert war, dass Javier sich fragte, ob er sie aus dem Müll gefischt hatte.
Der Detective musterte den Jungen, als wolle er abwägen, ob er ihn in sein Büro bitten und die Unterhaltung dort führen oder die Sache gleich vor aller Augen regeln sollte. Er hob beschwichtigend die Hände, als wäre er ein Verhandlungsführer bei einer Geiselnahme. „Bowie, ich wollte Sie gerade anrufen.“
Bowie Baker. Javier gefiel der Name. Es war eine schöne Alliteration.
Bowie grinste den Detektiv hämisch an. „Ach, wollten Sie das?“, spottete er. „Was hatten Sie denn vor mir zu sagen, John? Vielleicht das hier?“ Der Junge senkte seine Stimme und ahmte die Stimmlage des Detectives ziemlich genau nach. „Hey, Bowie, erinnerst du dich daran, wie ich dir im Krankenhaus gesagt habe, dass wir das Arschloch festnageln, das dich angegriffen hat, wenn du diese super-invasive Untersuchung über dich ergehen lässt? Und weißt du noch, wie ich dich zwei Tage später angerufen und dir gesagt habe, dass du die Sache auf sich beruhen lassen sollst, weil der Mann, der dich stundenlang brutal vergewaltigt hat, diplomatische Immunität besitzt? Nun, ich muss dir da was Lustiges erzählen. Er verklagt dich wegen Verleumdung und droht damit, dich wegen Falschaussage von der Polizei verhaften zu lassen. Kommt das ungefähr hin? Ist es das, was Sie mir sagen wollten?“
Ein anderer Beamter näherte sich Bowie von hinten, die Hand an seinem Taser. Hewitt warf dem Mann einen Tu-es-nicht-Blick zu. Der Mann nahm die Hand vom Taser, aber andere Detectives kamen näher und umkreisten die beiden. Bowie war eindeutig in der Unterzahl. Javier kämpfte gegen den Drang an, sich neben ihn zu stellen.
„Bowie, ich verstehe, dass Sie wütend sind. Das verstehe ich wirklich. Aber ich habe keinen Einfluss darauf, wie die Staatsanwaltschaft vorgeht. Das LAPD ermittelt nur und übergibt die Beweise.“
„Und die Beweise, die Sie übergeben haben, deuten auf mich als Verbrecher hin?“, schoss er zurück.
Hewitts Augen weiteten sich, sein Blick wurde ein wenig wild. „Natürlich nicht.“
Bowie knirschte mit den Zähnen. „Sie wissen, dass er mir das angetan hat. Er hat seine DNA überall auf mir hinterlassen, und es gibt einen Videobeweis.“ Das letzte Wort wurde von einem unterdrückten Schluchzen begleitet, doch er fing sich sofort wieder. „Als Sie gesagt haben, dass er wegen irgendeiner verdammten willkürlichen Formalität, die sich diplomatische Immunität nennt, nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, bin ich Ihrem Ratschlag gefolgt und habe es auf sich beruhen lassen. Ich habe versucht mit meinem Leben weiterzumachen, weil das der Ratschlag war, den Sie mir gegeben haben. Und jetzt dürfen seine Anwälte mich beschuldigen, eine Falschaussage gemacht zu haben?“ Jeder Anwesende musste die Fassungslosigkeit und den gerechten Zorn aus Bowies Stimme heraushören können. „Er verfolgt mich. Taucht im Tanzstudio auf, steht vor meinem Wohnhaus. Er beobachtet mich rund um die Uhr. Aber lassen Sie mich raten: Dagegen können Sie auch nichts tun. Oder? Wollen Sie mich direkt einsperren? Denn wie es aussieht, bin ich der verdammte Kriminelle.“
Das Gesicht des Detektivs hatte bis zu den Ohrenspitzen einen beunruhigenden dunkelroten Farbton angenommen. „Das ist eine sehr … ungewöhnliche Einzelsituation, Bowie. Das kommt nicht vom LAPD. Sondern von der Staatsanwaltschaft. Wir alle glauben Ihnen. Das tun wir wirklich. Uns sind nur leider die Hände gebunden.“
„Er ruiniert mein Leben!“, rief Bowie und warf das zusammengeknüllte Stück Papier weg, das vermutlich der Brief der Anwälte von Mr. Diplomatische Immunität war.
Die Stimme von Hewitt klang verzweifelt. „Ich werde die Patrouillen rund um das Wohngebäude, in dem du wohnst, verstärken und ich werde persönlich mit ihm reden und ihm sagen, dass er Sie in Ruhe lassen soll. Okay?“
Bowie schnaubte. Tränen glänzten in seinen Augen. „Ja, klar. Als ob ihn das interessieren würde. Was soll ihm denn schon groß passieren, wenn er Ihren Ratschlag nicht befolgt? Schreiben Sie ihm einen eindringlichen Brief, in dem Sie ihn bitten, es zu unterlassen? Wie furchteinflößend.“ Er drehte sich um, machte ein paar Schritte Richtung Ausgang, blieb stehen und schaute über die Schulter zu Hewitt. „Wenn er mich tötet, klebt mein Blut an Ihren Händen.“ Dann war er weg und ließ ein Großraumbüro voller Detectives und Verwaltungsangestellter zurück, die ihm fassungslos hinterherstarrten. Javier ertappte sich dabei, wie er ihm ebenfalls hinterhersah.
Derjenige, der Bowie Baker etwas angetan hatte, verdiente es, bestraft zu werden. Doch stattdessen kam er nicht nur straffrei davon, sondern schikanierte ihn offenbar immer wieder aufs Neue. Javier war mit dieser Taktik sehr vertraut. Deshalb stand er bei Annabelles Zeugenaussage vor der Glasscheibe eines Befragungszimmers und würde sie zur Gerichtsverhandlung begleiten. Aus diesem Grund stand immer jemand vor ihrem Haus Wache. So wusste ihr Angreifer, dass sie eine Armee auf ihrer Seite hatte, die bereit war, für sie in den Krieg zu ziehen, wenn es nötig war.
Niemand würde für Bowie Baker in den Krieg ziehen.
Die Vorstellung berührte etwas in ihm. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wurde die Tür geöffnet, und Annabelle kam heraus. Mit hin und her schwingenden Zöpfen, die Augen auf ihre glitzernden Stiefel gerichtet, blieb sie vor ihm stehen. Javier ging vor ihr in die Hocke, wobei er darauf achtete, sie nicht zu berühren. „Bist du bereit zu gehen?“
Sie nickte zögernd.
„Sie hat das ganz toll gemacht“, sagte die Kinderpsychologin. „Ich glaube nicht, dass wir weitere Sitzungen abhalten müssen. Von nun an wird es wahrscheinlich nur noch Treffen mit den Anwälten geben. Bitte sagen Sie Annabelles Großmutter, dass ich ihr empfehle, sich an den strikten Beratungsplan zu halten, den wir anfangs vereinbart haben. Es hilft wirklich.“
Javier nickte. „Ich werde die Nachricht weiterleiten.“
Annabelles Großmutter hatte zwei Jobs, was es ihr unmöglich machte, ihre Enkelin zu den zahlreichen Terminen mit Ärzten, Anwälten und der Polizeibehörde zu begleiten, die das Opfer eines Gewaltverbrechens wahrnehmen musste. Es war ein zermürbender Prozess, den niemand durchmachen sollte, der einen Angriff oder eine Gewalttat überlebt hatte, schon gar nicht eine Achtjährige. Die Organisation, für die er arbeitete, sorgte dafür, dass Annabelle diese Termine wahrnahm. Das war Teil des Gesamtpakets.
Als sie die Abteilung für sexuelle Gewaltverbrechen verließen, schob Annabelle ihre Hand in Javiers und drückte ihren Körper eng an seine Seite. Javier drückte ihre Hand. „Ich passe auf dich auf, tapferes Mädchen. In meiner Gegenwart wird dir niemand wehtun. Okay?“
Annabelle nickte und verstärkte ihren Griff, als sie in den Aufzug stiegen. Sobald sie das Erdgeschoss erreichten, durchquerten sie die Lobby und gingen auf direktem Weg zu seinem Auto, das in einer Parkbucht vor dem Polizeigebäude stand.
Er öffnete die Hintertür des Chargers für Annabelle, wartete, bis sie sich angeschnallt hatte, schloss die Tür, ging zur Fahrerseite und setzte sich hinters Lenkrad. Gerade als er den Motor starten wollte, sah er ihn auf einer Bank vor dem Gebäude sitzen und ins Leere starren.
Bowie Baker.
Javier murmelte den Namen des Jungen. Als er merkte, dass er den Jungen anstarrte, schüttelte er über sich selbst den Kopf. Er sollte losfahren und die Begegnung vergessen. Doch irgendwie konnte er das nicht. Er öffnete die Mittelkonsole und kramte nach den Visitenkarten, die die Organisation ihm gegeben hatte. Sein Name und seine Handynummer standen darauf.
Ehe er es sich anders überlegen konnte, stieg er aus und eilte auf den niedergeschlagenen Jungen zu. Als er sich ihm näherte, hob Bowie den Kopf und riss ängstlich die Augen auf. Er verlangsamte seine Schritte und hielt die Hände hoch. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich werde dir nicht wehtun. Ich wollte dir nur das hier geben. Meine Handynummer steht auf der Rückseite. Wir können dir helfen.“
Die Angst in den Augen des Jungen verwandelte sich in Argwohn. Javier legte die Visitenkarte auf die Bank und ging zurück zum Auto. Er wollte Annabelle nicht länger als nötig allein lassen.
„Hast du Lust auf ein Eis? Wir könnten durch den Drive-thru fahren.“ Er blickte in den Rückspiegel. Annabelle dachte über die Frage nach und nickte dann zögernd. „Okay. Wir kaufen auch eins für deine Abuela.“
Er setzte den Blinker und schaute ein letztes Mal zu dem Jungen, der immer noch auf der Bank saß. Würde er anrufen? Fast hätte er über sich selbst gelacht. Warum zum Teufel interessierte ihn das? Was auch immer der Junge tat oder nicht tat, ging ihn einen Scheißdreck an.